SIGINT10 - final10
SIGINT 2010
Konferenz für Netzbewohner, Hacker und Aktivisten
Referenten | |
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Martin Butz |
Programm | |
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Tag | Day 3 - 2010-05-24 |
Raum | Konferenzraum (MP6) |
Beginn | 13:00 |
Dauer | 00:45 |
Info | |
ID | 3845 |
Veranstaltungstyp | Vortrag |
Track | Netzbewohner |
Sprache der Veranstaltung | deutsch |
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Antropofagia
Von Menschenfressern, Prosumenten und einer eigenartigen Kultur
Nach Hartmut Rosa läßt sich die alte kantische Frage der Ethik: Was sollen wir tun? bruchlos in eine andere überführen: Womit verbringen wir unsere Zeit? Je länger man lebt, desto entscheidender ist eine für den Einzelnen sinnstiftende Antwort auf diese Frage.
Der Vortrag versteht sich als Beitrag, der diese Frage und ihren Kontext aufnimmt und vorläufig zu beantworten versucht: Wie funktioniert in dieser Zeit authentisches und selbstbestimmtes Leben, Arbeiten und Lernen und welche Modelle dazu bietet unsere digitalisierten Welt?
Über das Konzept der 'Antropofagia', einer emanzipatorischen Kulturtechnik ursprünglicher brasilianischer Herkunft werden Modelle der analogen und digitalen Aneignung, Neuzusammenstellung und Collage vorgestellt und auf ihr kreatives und aufklärerisches Potential hin befragt. Darunter befinden sich so unterschiedliche Konzepte und Praktiken wie Le Parkour, Open Source Software und Überwachung der Überwacher.
Nach Hartmut Rosa läßt sich die alte kantische Frage der Ethik: Was sollen wir tun? bruchlos in eine andere überführen: Womit verbringen wir unsere Zeit? Je länger man lebt, desto entscheidender ist eine für den Einzelnen sinnstiftende Antwort auf genau diese Frage. Der Vortrag versteht sich als Beitrag, der diese Frage und ihren Kontext aufnimmt und vorläufig zu beantworten versucht: Wie funktioniert in dieser Zeit authentisches und selbstbestimmtes Leben, Arbeiten und Lernen und welche Modelle dazu bietet unsere digitalisierten Welt? Zur Einführung stelle ich ein geplantes aber bislang noch nicht durchgeführtes Kunstprojekt des französisch-brasilianischen Künstlers Roberto Cabot vor. Dabei soll der Film “How Tasty Was My Little Frenchman” (1971) des brasilianischen Regisseurs Nelson Pereira dos Santos auf die meerseitige Fassade des Copacabana Palace Hotel am Strand von Rio de Janeiro projeziert werden: Das Bauwerk und Symbol kolonialer Herrschaft erscheint im Lichte der 'antropophagischen Geschichte' und wird damit konkret zweckentfremdet und metaphorisch wiederangeeignet. Das Kunstprojekt dient mir als Beispiel, um den Begriff der “Antropofagia” einzuführen und zu versinnbildlichen. Dieses Konzept einer emanzipatorischen Kulturtechnik ist bekannt geworden durch Oswald de Andrade, welcher die brasilianischen Künstler mit seinem „Anthropophagischen Manifest“ (1928) zur produktive Aneignung der kolonialen Dominanzkultur auffordert: „Der Brasilianer als kultureller Kannibale, der gierig fremdes Kulturgut verschlingt, es mit eigenen Elementen vermengt und als etwas Verändertes wiedergibt.“ (Alexander J. Wahl) Auf der Grundlage von Andrade's Vorgabe verstehe ich die „Antropofagia“ als Metapher, welche eine grundsätzliche Form der emanzipatorischen Sinnstiftung und kreativen Weltaneignung beschreibt: Der – metaphorische – Anthropophage will kennen und können, besetzen und besitzen, was ihm fehlt, ihn dominiert und überlegen erscheint oder gar defacto ist. Er will zu sich selbst kommen, seine Identität herstellen, indem er das Fremde und Begehrte zum Teil seiner selbst macht. Die Eigenschaften, Vermögen und Fähigkeiten seiner Widersacher ängstigen und faszinieren ihn zugleich; sie sollen durch die rituelle Einverleibung gebannt und im Selbst aufgehoben werden (aufgehoben im schönen Hegel'schen Dreisinn: aufbewahren, erhöhen, auflösen). Noch weiter gedacht und auf die kulturelle Umwelt übertragen: Die Dekomposition, das Auseinanderpflücken, die Ignoranz gegenüber dem ursprünglichen Zusammenhang der Teile erschafft einen neuen Sinn. Indem der vormalige Kontext eines Gegenstands (einer Idee, einer Technologie, eines Verbraucherangebots) ignoriert, die Gebrauchsanweisungen und Nutzungsgebote missachtet werden, macht der Antropophage sich und den seinen den Gegenstand des Interesses zu eigen. Anthropophagen sind Hacker im Sinne „experimentierfreudige(r) Personen, die mit ihren Fachkenntnissen eine Technologie beliebiger Art außerhalb ihrer normalen Zweckbestimmung oder ihres gewöhnlichen Gebrauchs benutzen.“ (Wikipedia) Der so verstandene Anthropophagismus ist eine kulturelle, emanzipatorische und aufklärerische Praxis, die besonders dann deutlich hervortritt, wenn reale und symbolische Herrschaft über Territorien (z. B. urbane Öffentlichkeit), Vorschriften und Kontrollmechanismen (z. B. Copyright, Überwachungsstrategien), Meinungenen und Diskurse (Medienöffentlichkeit, Werbung) auf die Kreativität von Individuen trifft, die sich noch nicht oder nicht mehr im Sinne der Dominanzkultur 'zivilisiert' verhalten. Das Prinzip der anthropophagischen Kulturpraxis ist grundsätzlich unabhängig vom technologischen Fortschritt und steht in gewissem Sinn sogar quer dazu. Nichtsdestotrotz finden es im digitalen Zeitalter einen äußerst fruchtbaren Boden; vorläufig sehe ich drei entscheidende Aspekte: Variantenreiche Techniken und laufend frisches Material zur De- und Rekomposition: die Möglichkeiten der Neuzusammenstellung und Nutzung im eigenen – nicht vorgeschriebenen – Sinn können auf immer wieder neue Gebiete ausgedehnt werden (Text, Musik, Kontakte). Ein einfacher oder zumindest potentiell vereinfachter Zugang zu Netzwerken, Software und technischen Praktiken, mithin Infrastrukturen, die dafür sorgt, dass die Unterscheidung zwischen Autor und Publikum ihren grundsätzlichen Charakter verliert (W. Benjamin, neudeutsch wird dies durch den „Prosumenten“ bezeichnet). Die Tatsache der zunehmenden Kommunikation(smöglichkeiten) auf der Grundlage der Vernichtung von Raum und Zeit und der vervielfachten Möglichkeiten zur Bildung realer und virtueller Gemeinschaften (= Menschen mit ähnlichen oder gleichen Interessen, Ideen, Wünschen und Bedarf treffen aufeinander und wissen voneinander) Der Vortrag versammelt weiterhin Verhalten, Praktiken und Tätigkeiten unterschiedlichen Art und Herkunft, die ich als Beispiele und Zeichen einer anthropophagischen Kultur deute: Off- und Online-Mashups, Basteleien, Improvisationen, Eigensinniges, (Wieder-)Aneignungen von Territorien, Diskursen, Moden, Verbraucherangeboten, industriellen Produkten und Praktiken einer unabsichtlichen oder gezielten Aufklärungsarbeit, dort wo offizielle Gebrauchsanweisungen erweitert, abgewandelt oder ganz ersetzt werden. Die Liste der konkreten Beispiele wird laufend erweitert; darunter u. a.: Trapelpfade, die How-to-make-everything-Bewegung, Le Parkour, Sprachentwicklung, Inverse Surveillance, Jay-Z.